Susanne Lutz – Archives of Service Civil International

Susanne Lutz

“Im Alter werden junge Freunde wichtig”.

Die Auslandferien verbringt Susanne Lutz jeweils weit weg von allen Vierstern-Hotels. Statt am Swimming Pool zu liegen, beteiligt sich die Siebzigjährige lieber am Bau von afrikanischen Lehmhäusern oder am Unterhalt bulgarischer Naturschutzgebiete – zusammen mit Zwanzigjährigen.

Sie berichtet: “Ich bin keine, die schnell Angst bekommt. Bevor ich für zwei Monate als internationale Beobachterin nach Chiapas in Mexiko ging, war ich allerdings ziemlich nervös. Schliesslich ist die Provinz seit Jahren Schauplatz von Unruhen. Die einheimische Bevölkerung kämpft für mehr Rechte; es hat bedrohlich viel Militär dort, ungefähr 73’000 Mann. Die internationalen Beobachter versuchen mit ihrer Präsenz Übergriffe der Truppen zu verhindern. Als ich dann in dem kleinen Indio-Dorf nahe der Grenze zu Guatemala angekommen war, fühlte ich mich jedoch gefasst und ruhig. Ich bin dann jeden Tag ein paar Stunden lang der nahen Überlandstrasse entlang gegangen und habe die Truppenbewegungen beobachtet.

Hingereist bin ich mit einem 25-jährigen Mann aus Zürich. Nach dem Vorbereitungskurs hat er mich gefragt, ob wir nicht miteinander reisen wollten. Ich selber hätte mich nicht getraut, ihn zu fragen; ich hätte befürchtet, dass er denke: “Die alte Frau schafft es nicht alleine; sie braucht jemanden”. Seine Anfrage hat mich sehr gefreut. Ich habe sofort zugesagt, und wir hatten es gut miteinander. Noch heute sind wir Freunde. Der Altersunterschied von 43 Jahren spielt keine Rolle. Ich finde, es ist vieles eine Frage der persönlichen Einstellung.

Ich bin jetzt einundsiebzig Jahre alt. Ich bin geschieden, meine vier Kinder gehen ihre eigenen Wege. Von den gleichaltrigen Bekannten sind schon etliche gestorben – da muss man rechtzeitig schauen, dass man nicht vereinsamt. Ich finde, für alte Menschen ist es wichtig, jüngere Freunde zu finden. An einer Klassenzusammenkunft wurde ich einmal gefragt: “Warum machst du solche Auslandeinsätze?” Ich habe geantwortet: “Weil ich auf diese Weise neue Freunde finde”. Jemand hat gesagt: “Ich habe doch meine bisherigen Freunde. Ich will keine neuen mehr”. Das ist eine Einstellung, die ich, so lange ich lebe, nie verstehen werde!

Ich arbeite jedes Jahr zwei bis vier Wochen in einem internationalen Arbeitslager. Zweimal war ich in Nigeria in Afrika, wo der Einsatz von einer Kirche in Pennsylvania organisiert wurde. Mit dem Leiter, einem jungen Schweizer Theologen und seiner Frau, bin ich heute noch befreundet. Ich hüte regelmässig ihren kleinen Sohn Noah.

In 1999 war ich mit dem Service Civil International in Bulgarien und half, ein Naturschutzgebiet von Abfall zu säubern. In 2000 war ich in der Türkei, auch mit dem Zivildienst, in einem kleinen Dorf, elf Busstunden von Istambul entfernt. Die dortigen Kleinbauern, ehemalige Nomaden, leben vom Obstbau.

Während diesen Arbeitseinsätzen erhalte ich einen Einblick in den Alltag eines andern Landes und komme auf unkomplizierte Weise den Leuten näher. Mir ist es wichtig, während eines Aufenthalts nicht nur ‘den Rahm von der Milch zu schöpfen’, wie man in Bern sagt, sondern das Leben im Gastland in seiner ganzen Bandbreite kennen zu lernen. Ich esse, was die Einheimischen jeden Tag essen, und nicht nur ihre Sonntagsgerichte. Ich schlafe nicht in einem weichen Hotelbett, sondern in Hütten oder Schulhäusern. Bei der Wahl des Einsatzes achte ich aber darauf, dass ich nicht im Zelt schlafen muss – das ist mir mittlerweile doch zu beschwerlich geworden.

Bei meinen Aufenthalten gewinne ich intensive Eindrücke, schöne und andere. Die Kindersterblichkeit in Afrika hat mich tief erschüttert; das ist wirklich schrecklich. In der Türkei habe ich an einem Hochzeitsfest erlebt, wie alte Bräuche unter neuen Einflüssen zu zerbröckeln beginnen. Am einen Ende des kleinen Dorfes tanzten die Männer, am andern die Frauen, so, wie es die Tradition will. Sie taten das aber nicht mehr zu ihrer einheimischen Musik, sondern zu stampfendem Discosound. An der unbeholfenen Art ihrer Bewegungen konnte man sehen, wie fremd und unvertraut ihnen diese Musik war. Das hat mich schon sehr nachdenklich gestimmt. Dann gibt es aber auch viele wunderschöne Erlebnisse: die Gastfreundschaft etwa ist in vielen Ländern so viel grösser als bei uns in der Schweiz!

Klar bin ich alt. Schmerzhafte Arthrosen in den Füssen machen mir zu schaffen. Man darf solche Alterserscheinungen nicht verleugnen. Dennoch ist für mich die Pensionierung der schönste Abschnitt meines Lebens. Ich kann meine Tage selber gestalten und bin befreit vom Zwang der Arbeitssuche. Ich kann vieles verwirklichen, wofür ich früher jahrelang keine Zeit hatte.

Das Gefühl, nützlich zu sein, schätze ich in den Arbeitseinsätzen sehr. Ich denke, davon könnten auch viele Frühpensionierte profitieren. Trotzdem muss sich jeder überlegen, ob ein solcher Einsatz für ihn sinnvoll ist. Man muss körperlich und psychisch zwäg sein. Wichtig ist, dass man sich den Aufenthalt in einem fremden Land mit andern hygienischen Verhältnissen wirklich zutraut. Gute Sprachkenntnisse sind ebenfalls eine wichtige Voraussetzung. Englisch wird bei den meisten Einsätzen verlangt. Und dann muss man sich bis zu einem gewissen Grad in eine Gruppe junger Leute einfügen können.

Ich achte jeweils sehr darauf, dass ich nicht in die Rolle derjenigen gerate, die alles besser weiss. Da muss ich mich manchmal schon zurückhalten. Als ich vorletzten Sommer in Bulgarien miterlebte, wie drei junge Japanerinnen fürs gemeinsame Abendessen Spaghetti machten und diese, da sie viel zu früh gekocht hatten, kalt auftischen wollten, konnte ich allerdings nicht einfach zusehen. Ich schlug den drei Frauen vor, die Spaghetti doch mit der Sauce zu vermischen und mit ihr aufzuwärmen. Dass ich mich einmischte, hat sie zuerst genervt; das merkte ich schon. Dann haben sie aber mitgemacht und es kam gut heraus.

Bis jetzt bin ich immer sehr gut mit den jungen Leuten zurechtgekommen und habe viele wunderschöne Erinnerungen mit mir nach Hause genommen. In Bulgarien gab es in der Nähe unserer Unterkunft eine warme Quelle, die einen Teich bildete. Abends vor dem Schlafengehen schlüpften wir jeweils ins Badezeug, gingen ins Wasser, standen im Kreis und schauten in der Stille der Nacht miteinander zum riesigen Sternenhimmel auf. Das war ein Ritual. Wir gehörten zusammen. Den Zauber dieser Augenblicke werde ich nie vergessen”.